Laut und Lisa

Auch in Marrakesch beginnt der Tag mit dem Hahnenruf, der den Muezzin weckt.
Der Vormittag gehoert den Tauben, die den Bewohner der Dachterasse daran erinnert, dass er von einer Stadt umgeben ist. Dann diese unauffaelligen Voegel, Ruecken und Fluegel wie Spatzen, und auch genauso frech neben dem Fruehstueckstisch, aber mit roetlicher Brust und froehlichem Zwitschern. Draussen haengen neben den kleinen Geschaeftseingaengen schmale Vogelkaefige mit winzigen Singvoegeln, die ihre komplizierten Melodien durch die schattigen verschlafenen Gassen hallen lassen. Zuweilen blinzelt ein Berber hinter seinen geschnitzten Figuren hervor, die Matratze im Schatten der Geschaefte ausgebreitet und damit beschaeftigt, den langen Sonnentag des Ramadan zu ueberstehen.
Am Djemaa el-Fna ist Durchzug von Einkaeufern, die auf bestimmte Geschaefte zusteuern, oder mit Plastiksaecken zurueckkommen, es ist Baulaerm von der Moschee her, und viel Staub, und ein gewisses Summen. Die Schlangenbeschwoerer beginnen sich um die Sonnenschirme zu lagern, die verstreut aufgestellt werden, dann und wann gucken sie unter die flachen Hauben, ob die Kobras noch da sind. Affen kommen angetanzt, so unbeschwert und gelassen, dass erst spaeter der an der Kette haengende jeweils zugehoerige Mann sichtbar wird. Obstverkaeufer stapeln die Orangen auf ihren Wagen, die Souvenierstaende reihen sich langsam an der Schattenseite, am wenigsten beachtet. Am Meeresstrand liegt Lisa mit verdorbenem Magen, Ralf landet in Marrakesch und sucht die Autovermietung. Das Summen wird voller.

Auf meinen Streifzuegen durch die Mella, die Canetti so ergreifend beschreibt, habe ich zwar die Synagoge gefunden, aber weder einen Juden noch ein juedisches Haus, wohl aber einen Menschenschlag, der dem beschriebenen sehr nahe kommt. In den schmalen Gassen muss ich mich hinter blau oder rosa gekleideten breiten Frauen vorbeischieben, sehe duerre Maenner um kleine Streifen Fleisch feilschen, ueber denen im Fenster ein feistes Gesicht thront. Zwei junge Burschen saegten aus einem Blechstueck Metallschmuck aus, Hefte, Zigarretten und Seifen waren am Gehsteig gestapelt, verschleierte Frauen sassen tief ins Gespraech vergraben auf der Tuerschwelle, ein Moped zwaegte sich vorbei, ein aberwitzig kleines Kaetzchen tollte zwischen den Fuessen umher. Am Friedhof waren ausser den auf das Eisentor gemalten hebraeischen Buchstaben keine Schriftzeichen zu sehen, am wenigsten auf den Graebern mit ihren kistengrossen flachliegenden walzenfoermigen Sockeln, den einzigen Gebaeuden, die nicht dem Himmel, sondern der Erde zustrebten. Auf der Umfassungsmauer sassen die Stoerche, blickten besorgt auf das Treiben herab und klapperten dazu mit den langen Schnaebeln.

Das Summen hatte zugenommen. Nun lockten Schnarrfloeten die Kobras unter ihren Hutverstecken hervor, und die Besitzer registrierten mit Adleraugen jeglichen interessierten Blick, um rasch die Kobra anzustupsen, damit sie ihren Hals aufblaehte, waehrend der Mitarbeiter sich von hinten heranschlich und mir eine Schlange um den Hals zu legen versuchte, die, da sie sich dabei ringelte, ihre gelben Bauchringe entbloesste. Wer stehen blieb, bekam einen Affen auf die Schulter gesetzt, der mit dem gleichmuetigsten Gesicht dasass und, sobals sich der unbedarfte Traeger vom Schreck erholt hatte, mit einem Satz zu seinem Besitzer zurueckkehrte. Die Essensstaendchen sind aufgestellt, da und dort wird noch ein Wagen ueber den Platz gezogen. Wasser/ und Milchflaschen warten im Wasserkuebel, frisches Obst wird zu Saft gepresst und in Plastikflaschen und Glaeser gefuellt. Kohlefeuerchen werden entzuendet, Fleischbaellchenroesten am Gitter, Rauchschwaden ziehen ueber den Platz. Die Sitzgaerten fuellen sich, Europaeer drehen bereits Fleischspiesschen zwischen den Zaehnen, Marokkaner warten noch gesenkten Hauptes auf den erloesenden Ruf des Muezzins, den Teller vor sich.
Dann scheint der Platz noch einmal den Atem anzuhalten. An den Eingaengen zu den Moscheen draengen sich Maenner, Gesaenge droehnen heraus, Schweissgeruch und Geschaeftigkeit. Doch dann beginnt ein Toben. Die Essstaende werden gestuermt, Kinder jagen ueber den Platz, die Schlangen wollen sich verkriechen, der Uhu blickt entsetzt um sich wie aus einer fremden Welt. Haendlergeschrei und Kundengeschrei vermischen sich, Mopedgeknatter und Floetenspieler. Europaeische Maedchen versuchen, mit einer an einem langen Stock haengenden Schlaufe eine der aufgestellten Trinkflaschen zu fassen, die Agame steckt in ihrem kleinen Bambuskaefig fest, die Maeuse draengen sich in ihrem Gehaeuse aneinander und versuchen so, das Schlimmste zu ueberstehen. Bis Mitternacht steigt der Laerm so weit, dass die Aufrufe zum Nachtgebet darin versinken, obwohl mit Verstaerkeranlagen vorgetragen, ein Lebenswille scheint durchzubrechen, der den ganzen Tag im Schatten geschlafen hat, das Tagesgeschaeft, das Tagesvergnuegen pocht nun auf sein Recht, und wie die Kaempfe ausgegangen sind, koennen wir am naechsten Vormittag nur ahnen, da der Muell eingesammelt und der Platz gekehrt wird.

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